1.Prolog
Apeiron (Sekundäre Dimension), Eisenland
Im Jahr 520 des Götterlosen Zeitalters
Königreich Dion, Sylvana, oder auch das entrückte Gebiet der Waldelben ins Legendenreich, mitten im Silberwald
Die Zauberschmiedin rannte, taumelte, stürzte, rappelte sich auf und hetzte weiter. Bald würde sie die Grenzen Sylvanas erreicht haben. Das Feuer in ihrem Unterleib brannte und loderte erneut auf. Keuchend brach sie in die Knie und spürte den Schweiß, der von ihrer Stirn perlte. Jetzt, da sie die Warge abgeschüttelt hatte, jagte sie der Schmerz. Noch eins musste sie unbedingt erledigen, bevor das Feuer sie von innen verzehrte und ihre eigene Zauberkraft sie in Asche aufgehen ließ. Als ihr letztes Vermächtnis wollte sie wichtige Nachrichten als Träume und Visionen in den Äther schicken. Mit dem Gedanken an Amruila, die sie in der Höhle gebettet wusste, kämpfte sie sich hoch. Weiter! Der Plan, ihr Kind als Waffe gegen Morren einzusetzen, konnte nur aufgehen, wenn sie ihr Wissen teilte. Mit Viator, dem Weltenwanderer, dem die Geschicke von Apeiron noch am Herzen lagen. Die letzte Instanz, der Amruielle vertrauen mochte, seitdem die Götter Eisenland verlassen hatten. Noch den Hügel hinauf, dann würde sie den Silberfluss sehen, der die östliche Grenze von Sylvana bildete. Noch war sie vor den Bogenschützen sicher, die die Waldelben an ihren Grenzen positioniert hatten, um jeden Eindringling, der doch einen Fuß ins Reich der Legenden setzte, erbarmungslos zu erschießen. Im Moment wurde jeder verfügbare Elb im Kampf gegen die Warge gebraucht. Schnaufend erklomm sie den Gipfel des Hügels und beobachtete mit Entsetzen, wie aus ihren Fingerspitzen kleine Flammen züngelten. In ihr tobte das Feuer des Bael. Sein Vermächtnis an seine Nachkommen. Seine ganz eigene, perfide Rache. Amruielle besaß durch ihre Mutter eine göttliche Seele, die immerfort mit dem verdorbenen Erbteil eines gefallenen Gottes kämpfen musste. Lykos, ihr Bruder, hatte es nicht geschafft, sich dem Bösen zu verwehren. Traurig dachte sie an die anderen fünf Geschwister, die der Dunkle Herrscher nach ihrer Flucht aus Morband, gejagt und zu magischer Asche verbrannt hatte. Wie er gierte auch sie nach der Asche, da durch das Einatmen die Welt bunter und das Leben leichter wurde. Nur durch den Rausch, den die Asche ihr schenkte, hatte sie ihr Dasein in den Wurzelschächten der Vulkanburg ertragen und ihren Plan verfolgen können.
Erschöpft sank sie nieder. Das Wasser des Silberflusses glitzerte so schön wie die Facetten des klaren Kristalls, den sie Amruila in die Decke gesteckt hatte. Glücklich wie die Asche konnte er machen.
Einfach hier sitzen, von ihrem Kind und dem Leben mit Averloron träumen, das sie sich wünschte und das ihr nicht bestimmt war. So wäre es leichter, den Flammentod zu ertragen. Etwas Asche hatte sie noch ihrem Wams. Die nächste Schmerzwelle jagte durch ihren Körper, sie krümmte sich auf dem felsigen Boden, der von Grasbüscheln durchsetzt war. Jeden Halm sah sie überdeutlich vor sich. Manche waren gelb, andere hatten dunkelgrüne Streifen. Es gab kurze, lange, geschwungene. Ihr Wams wurde dünn und schwarz, so wie Papier, das man über eine Kerze hält. Einfach hier liegen bleiben, in den Himmel blicken, die wattigen Wolken beobachten, wie sie wundersame Wesen bildeten. Das hätte sie gern mit Amruila getan. Kind, was ist das? Ein Schaf? Nein, es sieht aus wie ein Leporid. Was? Du hast noch nie ein kaninchenköpfigen Kobold gesehen. Dabei sind sie so niedlich. Das gedankliche Zwiegespräch mit einer fünfjährigen Feuerelbin, die sie aus großen grauen Augen anstarrte, zauberte Amruielle ein Lächeln ins Gesicht und ließ die neue Schmerzwelle erträglich werden.
Sie atmete tief ein und aus. Dann zwang sie sich, sich aufzusetzen. Die Sonne schien hell und warm. Ein schöner Tag. Auch zum Sterben? Du musst die Visionen losschicken, sonst war alles umsonst. Das Opfer darf nicht vergebens sein. Mit Tränen in den Augen straffte sie sich und der Wind strich ihr tröstend übers Gesicht. Da sie kein Nachtmahr war, der gezielt und ohne große Mühen Alben verschicken konnte, brauchte sie einen magischen Ort dazu. Ihr Ziel war der Arthemishain gewesen, der durchdrungen von Magie war. Weit im Westen der heutigen Westmark entsprang eine der wenigen Quellen. Doch den weiten Weg würde sie in ihrem Zustand nicht mehr schaffen. In Lukia, dem Nachbarland von Dion, gab es ebenso viel Magie. Dennoch würde es immer noch einige Tagesreisen kosten, bis sie in den lichten Wäldern den richtigen Ort gefunden hätte. Sie musste die Visionen losschicken, dabei waren sie wild und unberechenbar, wie ihre Schöpferin. Es war nicht einzuschätzen, wann die Nachrichten bei den Empfängern eintreffen würden. Ob sie eindeutig oder verzerrt waren, ob sie einmal geträumt werden würden oder öfter erschienen. Nur einmal oder immer wieder. Oder ob sie sich nicht vorher im Äther auflösten. Das Risiko musste sie eingehen, sie hatte keine andere Wahl. Das Tröstliche war, dass Morren nicht wissen konnte, dass sie eine Tochter geboren hatte. Wieder überrannte sie eine Welle eines feurigen Schmerzes. Die Tränen, die ihr über die Wangen rollten, schienen aus Lava gemacht und verbrannten ihre Haut. »Ich muss es jetzt hier tun. Mir bleibt keine Zeit!«, seufzte sie. Bevor ihre Kleidung verkohlte, riss sie sich die heißen Fasern vom Leib, suchte in den Resten der Tasche nach dem Beutelchen mit der magischen Asche, die sie von den Aschefeldern um die Burg Morband mitgehen lassen hatte. In ihr war die Magie sogar von Einhörnern, heiligen, weißen Hirschen, Drachen und anderen hoch magischen Wesen, die sie berauschte. Wie gern würde sie diese inhalieren und den Schmerz vergessen. Rasch kramte sie weiter und fand die alte Wargpfote, ein Andenken an ihren Lieblingswarg Merlynn. Auf diese Weise war ihr alter Weggefährte immer gegenwärtig und oft war Wargerei damit leichter durchzuführen. Jetzt konnte Amruielle jeden magischen Beistand brauchen. Sanft streichelte sie über das silberne Fell. Bald werde ich bei dir sein, mein Freund.
Die nächste Welle traf sie so unvermittelt und besonders hart, dass sie gegen die ewige Schwärze ankämpfen musste. So schnell ihre Hände, die aus heißen Lavaströmen zu bestehen schienen, es noch konnten, verteilte sie die magische Asche kreisförmig um sich. Dann setzte sie sich im Schneidersitz in den Kreis, legte die Wargpfote neben sich und fasste nach dem Rubin an ihrem Hals. In seinem Kern war Blut von Merlynns tödlicher Wunde. Heiliges Wargblut. Geopfert durch Liebe von einem verdorbenen Wesen des Bösen. Der Geist des Merlynn nahm Gestalt an, begrüßte sie schwanzwedelnd und leckte über ihr glühendes Gesicht.
»Danke, mein Freund. Dass du da bist und mir beistehst, in dieser schweren, letzten Stunde.«
Der silbergraue, zottelige Warg jaulte und setzte sich dann auf ihr Handzeichen brav neben sie. Der kühle Leib des Geistwesens kühlte ihren überhitzten Körper angenehm. Sie behielt den Rubin in der Hand und belebte die Asche, der nun Geister entstiegen. Sie erkannte die Konturen eines alten Drachens und eines weißen Hirschs. Amruielle erhob ihre Stimme und sang den magischen Tieren einen Willkommensgruß, in den sie einfielen. Dann verbanden sich ihre Auren, sie fasste ins Gewebe und fand die silbrigen Pfade, die wie Fäden die Träume transportierten. Sie sang den Spruch, um sie zum Vibrieren zu bringen. Daraufhin dachte sie an ihr Kind, dem sie so vieles zu sagen hatte. Dann an Averloron, mit dem sie Liebe verband und den sie bitten musste, ihr zu helfen. Und zum Schluss schickte sie eine Vision zu Viator, sodass er zum Weltenwandler werden konnte. Und als die den letzten Gedanken in die Traumpfade gespeist hatte, bat sie den weißen Hirsch, Averloron zu finden, und den alten Drachen, die Nachrichten an Viator zu bewachen. Zum Schluss schickte sie ihren geliebten Merlynn mit dem Auftrag davon, erst der erwachsenen Amruila zu erscheinen.
»Jetzt werde ich zu magischer Asche.« Der Gedanke, dass der Wind ihre Asche in allen Richtungen verwehen würde, tröstete sie, bis alles in Flammen aufging und sie ihrer Halbseele befahl, Korkros’ Hallen zu suchen.

So machten sich der weiße Hirsch, der alte Drache und der silberne Warg auf, ihre neuen Herren zu finden, um ihnen die Nachrichten in Träumen und Visionen zu überbringen. Doch sie irrten umher und konnten lange Zeit keine Aura aufspüren. Andere Unseelen, die auf den goldenen Pfaden nach einem Wirt suchten, bekämpften sie, wollten sie in die Tiefen des Nihelem stoßen. Der weiße Hirsch wurde von Untoten gefangen und lange Zeit gelang es ihm nicht, sich zu befreien. Auch für den alten Drachen, der die Unendlichkeit auf seinen unsichtbaren Schwingen durchstreifte, um den Weltenwandler zu finden, war es nicht leicht. Viator reiste durch die Welten und Dimensionen. Oft dachte der geflügelte Wurm, ihn ausgemacht zu haben, doch seine Spur verlor sich in der Unendlichkeit. Wenn der Große Gnom die Tore zu der Primären Dimension durchschritt, war er für ihn verloren, dorthin konnte er ihm nicht folgen. Also blieb dem Drachengeist nichts Anderes als sich vor das Nebeltor zu kauern und zu warten, bis der Reisende zurückkam.
Dem Warg jedoch gelang es, die kleine Feuerelbin zu finden, denn sie lebte an dem Ort, an dem Amruielle die Geister losgeschickt hatte. Noch durfte er jedoch der kleinen Amruila die Träume nicht überbringen, noch war sie zu jung. Merlynn vermisste seine Herrin, die ohne ihn zu den Hallen des Korkros geritten war. Die kleine Feuerelbin erinnerte ihn sehr an seine Herrin. Und da er als Geist nichts anderes zu tun hatte, als seinen letzten Auftrag zu erfüllen, wartete er darauf und beobachtete das kleine Kind, wie es im Dorf der Waldelben größer wurde. Doch Merlynn bemerkte bald den Argwohn, den die unmagischen Waldelben recht bald vor dem fremdartigen Kind verspürten. Argwohn und Angst vor der kleinen Elbin, die mit ihrer olivfarbenen Haut und der derben Gestalt nur wenig edel aussah.
Aber ihm waren die Pfoten in seinem Dasein gebunden, nichts konnte er ohne einen Befehl Amruielles tun. So litt er mit Rayden, wenn die Waldelben sie ungerecht behandelten.
Als Rayka im Jahr 580 ihren sechzigsten Geburtstag feierte und langsam zu einer jungen Elbin herangewachsen war, fand Merlynn, dass es Zeit für den ersten Traum war:
***
Rayka schreckte von ihrem Nachtlager auf. Und da sie sich selbst sehen konnte, wusste sie, dass sie immer noch schlief und träumte. Sie spürte, wie sich etwas in ihren Rücken bohrte. Rasch wirbelte sie auf die andere Seite, wobei sich ihre Beine in der Bettdecke verfingen und sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, und starrte beklommen in zwei glühende Augen. Rayka schluckte, versuchte den Blick zu senken, da ihre Augen schmerzten. Tränen liefen ihr über die Wangen, aber selbst ihre Lider gehorchten ihr nicht. Solche Augen hatte sie noch nie gesehen. Sie waren von der Schönheit eines vollkommenen Diamanten. Sie glitzerten silbern und doch in allen Farben. Ein strahlendes, sphärisches Licht ging von ihnen aus, das Raykas Herz erwärmte. Jegliche Furcht fiel von ihr ab, auch jeder Kummer und jede noch so bedrückende Sorge war wie weggeputzt. Selbstvergessen wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. Der Schmerz war verschwunden, doch das alles wunderte sie nicht. Sie empfand nur Glück, das sie auflöste. Sie spürte weiter nichts als den Herzschlag des Seins und verging beinahe in seinem Rhythmus. Dann begann das Licht zu flackern, in seinem Innern pulsierte ein roter Schein. Eine Flamme, die leidenschaftlich emporloderte, sich zur Feuersbrunst erhob und das goldene Licht verbrannte. Mit einem Mal erstarb der Herzschlag. Rayka rang nach Luft. Der Trost, den sie wie eine Salbe empfunden hatte, zerrann. Das Glück verkohlte. Und sie wurde auf sich zurückgeworfen. Die zwei Augen blieben einen Wimpernschlag, doch es waren nur schöne Edelsteine, in denen feurig das Leben loderte. Dann lösten sie sich auf und um Rayka war nur noch Finsternis, die sie schwärzer als jede andere Dunkelheit empfand. Von ihr blieb nur die Asche eines armseligen Lebens.
***
Enttäuscht dachte Merlynn: Das war es? Tückische Traumreise. Hatte der Traum während der vielen Jahre etwa Schaden genommen? Wie sollte das arme Elbenmädchen denn jetzt wissen, dass es die Silbren waren, die sie gesehen hatte? Und konnte sie nach dem Traum erahnen, dass sie eine Feuerelbin war und eine Zauberschmiedin werden konnte? Wohl kaum. Mitfühlend beobachtete der Warggeist, wie Rayka nur langsam den Weg in die Wirklichkeit fand und sich die Augen rieb. Als sie erkannte, dass sie in der Wolfshöhle lag, blieb sie ernüchtert niedergeschlagen und einsam zurück. Der rotbraune Warg, der neben ihr schlief, bemerkte von ihrer Trauer nichts. Dumpfes Ding, dachte der Warggeist von seinem Artgenossen. Er selbst wäre der bessere Gefährte, wenn er noch aus Fleisch und Blut bestünde. Nur zu gern hätte Merlynn Raykas Hand geleckt und sie getröstet. Hatte der Traum denn nur schlechte Gefühle für sie? Dann flammte offenbar die Erinnerung an das goldene Licht in ihr auf, die der Geist mit ihr teilte. Sie spürte eine schreckliche Sehnsucht, die sie nahezu verbrannte. Ich brauche diese Steine!
Und dann bemerkte Merlynn, dass sie doch etwas von der mütterlichen Geborgenheit verspürt haben musste. Denn sie dachte: Einfach nur sein, wie schön. Das habe ich noch nie zuvor erfahren. Das will ich aufs Neue.
Keuchend formte sie aus Magie eine Lichtkugel. Es strengte sie sehr an, obwohl sie das schon so oft gezaubert hatte. Merlynn hatte Mitleid mit ihr. Warum half der Traum nicht, wenn er ihn doch endlich zu ihr schicken durfte? Aber er wusste ja, dass die Träume ein Eigenleben hatten und er noch öfter einen schicken musste, bis alles gesagt war, was Amruielle hatte sagen wollen. Am besten, ich versuche es gleich noch einmal.
Merlynn erkannte voller Freude, dass Amruielle in ihrer schönen Gestalt in dem Traum vorkam.
***
Entzückt betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war es und auch wieder nicht. Die Elbin, die zurücklächelte, war wunderschön. Ihre blutroten Haare umspielten in leichten Wellen ihr Gesicht in absolut harmonischer Symmetrie, ohne das Feuermal, das es entstellte. Staunend tastete sie nach ihrer Wange, ihre Haut war weich und makellos. Ihre riesigen, mandelförmigen Augen blitzten voller Vergnügen. Sie hatte ihre rot-schwarze Lederkleidung gegen ein burgunderrotes Spitzenkleid eingetauscht, das ihre weiblichen Formen atemberaubend betonte.
***
Sie träumt gar nicht von ihrer Mutter, sondern wünscht sich diese Gestalt, dachte Merlynn.