Leseprobe 2. Kapitel

2. Die Fremde mit den roten Haaren

»Sie kommen direkt auf uns zu«, meldete Martius.

Emdoras, der die Befehlsgewalt über die Wächtergruppe besaß, befahl leise: »Bögen fertigmachen!«

Fließend wie in einer Bewegung zogen die acht Elben Pfeile aus den Köchern, nockten sie in die Sehne und hielten die Bögen zum Spannen leicht schräg.

»Anlegen!«

Die Elben ankerten zeitgleich, indem sie den Pfeilschaft zum Kinn zogen. Martius, mit der Schusshand am Wangenknochen, starrte in die Büsche, die dicht wie in einem Urwald waren. Es war gespenstisch still, nicht einmal die Vögel zwitscherten. Das Belfern der Warge, das vor Kurzem zu vernehmen gewesen war, blieb auch aus. Der blonde Waldelb konnte sie nicht erkennen. Hatte er sich getäuscht? Er hätte schwören können, sie noch vor wenigen Momenten erspäht zu haben. So hielt er den Bogen eisern wie die acht Kameraden gespannt und wartete auf den Schießbefehl des Bogenmeisters Emdoras. Ein sanftes Rascheln, das einen weiten Halbkreis um die Elbengruppe zog und daraufhin in ihrem Rücken verschwand. Ein einzelner Warg? Martius wurde es heiß. Unwahrscheinlich, die feige Brut trat in Rudeln auf. Doch was immer da geraschelt hatte, er konnte es nicht mehr ausmachen. Martius schielte zu Emdoras, aber der Bogenmeister schien es nicht bemerkt zu haben oder ihm keine Bedeutung beizumessen. Vielleicht war es nur ein Reh, das das Weite suchte, beruhigte er sich. Dennoch blieb er aufmerksam und konzentrierte sich auf die Umgebung, um den Stinkepelzen eins drauf zu brennen. Der Waldelb, der sonst herrliche Schmuckstücke und Glühsteine schuf, gierte danach, sie zu töten. Besonders seit jener Nacht, als ein Rudel, gebildet aus versprengten Halbstarken, sein Dorf Sylva angegriffen hatte. Dürr wie Holzleitern hatte der Hunger die Raubtiere in das Waldelbengebiet Sylvana getrieben, das im Herzen von Dion lag. Für Nichteingeweihte war es nahezu unmöglich, zu den Waldelben zu gelangen. Sylvana war wie eine Legende. Man hatte von dem Gebiet gehört, aber es war in keiner Landkarte verzeichnet und niemand kannte einen Bewohner des geheimnisvollen Landes. Der Silberwald hatte geschützte Grenzen, auf denen ein Bann lag. Doch darauf verließen sich die Waldelben nicht allein. Bogenschützen bewachten von hohen Felsen den Bannring oder von Mammutbäumen das Land jenseits des Silberflusses, der den Westteil einkesselte.

Und dennoch war es den Wargen nun zum zweiten Mal gelungen, nach Sylva vorzudringen. Damals zerfleischten die Bestien seine Tochter Moira, die er genauso glühend vermisste, wie er die Mörder hasste. Einen Warg zu erlegen, war nicht einfach. Man musste sein böses Herz exakt treffen und hoffen, dass die magischen Tiere nicht imstande waren, es durch einen schwarzen Zauber zu schützen. Einen solchen verdorbenen Zauber vermochten die Pfeile, die Martius in seinen ruhelosen Nächten entwickelt hatten, zu brechen. Doch sie waren aufwendig herzustellen und das Material schwer zu beschaffen. So trug der Goldschmied allein drei dieser Pfeile bei sich. Ungeduldig wartete Martius, dass sie sich endlich blicken ließen. Sein Puls rauschte in den Ohren. Die Begierde, die Bestien zu Strecke zu bringen, ertrug er kaum. Er nagte an seiner Unterlippe. Wohlmöglich hatten sie die Wächtergruppe gewittert und einen anderen Weg genommen. Sie fürchteten offenbar die Rache der Elben. Die Unruhe ließ seine Hände zittern. In diesem nervösen Zustand würde er keinen Mammutbaumstamm treffen, geschweige das Herz eines Warges. Er atmete lautlos ein und aus und versuchte so, seinen Puls herunterzubringen, um jederzeit einen gezielten Schuss abgeben zu können.

Plötzlich spürte er es. Das Prickeln auf seiner Haut. Magie. Er stöhnte, das konnte er nicht verhindern. Sofort handelte er sich einen bösen Blick des Bogenmeisters ein. Er beneidete Emdoras, dessen Tochter Bruna den Wargangriff überlebt hatte. Sie war zwar seitdem entstellt, da ein Warg ihr ins Gesicht gebissen hatte, doch sie lebte. Der Bogenmeister sah es dennoch als Unglück, denn nur eine vollkommene Elbin konnte erwählt werden, als Schwangere das Haus eines Ahnen zu werden und damit der Stolz der Familie. Erneut hörte Martius ein Rascheln in seinem Rücken. Gegen den Befehl drehte er sich um und sah im Gebüsch zwei rote Augen aufglühen. Sofort suchte er den Blick von Emdoras und gab ihm mit einem Nicken nach hinten zu verstehen, dass der Feind dort auf sie lauerte. Der Bogenmeister schloss kurz die Lider als Zeichen, dass er verstanden hatte. Martius tippte seine Nebenmänner an und signalisierte, dass sie sich umdrehen sollten, um die anderen Elben davon in Kenntnis zu setzen. Lautlos wandten sich bis auf zwei Bogenschützen alle um und wollten erneut ihre Pfeile ausrichten, als die Warge aus der Stille brachen. Fünf ponygroße, zottelige Warge mit handlangen Fängen sprangen zwischen die überrumpelten Elben. Martius’ Nebenmänner wurden sogleich umgerissen. Riesige Mäuler verbissen sich augenblicklich in ihren Kehlen und rissen sie mit einem Ruck heraus. Auch diese Exemplare schienen ausgehungert zu sein, denn gierig soffen sie das Blut und zerrten, ohne sich um die Umgebung zu kümmern, Fleischstücke aus den Elbenkörpern und schlangen sie in einem herunter. Martius blendete die Schreie und das Knurren aus. Er spannte nach, ankerte kurz den Wargpfeil, das Ziel über dem Pfeil genau ins Auge gefasst, hielt den Atem an, zielte und traf mitten ins Herz des linken Wargs. Das Tier war so überrascht, dass es starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Warg, der sich rechts an einem Wächter festgefressen hatte, hob den Kopf. Seine glühend roten Augen fixierten Martius, der unbeirrt den nächsten Pfeil aus dem Köcher zog. Der Boden bebte unter ihm, denn drei weitere Warge stürzten aus dem Gebüsch und griffen eine Dreiergruppe Elben an. Martius’ linker Fuß kam ins Rutschen. Die Erde war inzwischen aufgewühlt und durch das vergossene Blut glitschig. Mit einem Sprung nach hinten verhinderte er den Sturz. Der Warg, der ihn genau beobachtete, grollte und kam einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er musste ihn erlegen, bevor die Bestie ihre Chance nutzte. Martius besann sich, blendete den Kampfeslärm aus und wich beim Anlegen und Spannen einen Schritt zurück. Da spürte er schon den Stamm einer imposanten Eiche in seinem Rücken. Der Warg grollte erneut, dabei kniff er die Augen zusammen und reckte die klobige Schnauze in die Höhe. Dem Goldschmied kam es so vor, als ob dieser Warg es auf ihn abgesehen hätte. Die Bestie schien es zu genießen, den Angriff hinauszuzögern. Es lief ein erwartungsvolles Zittern durch den mächtigen Körper, die Muskeln spannten sich unter dem grauen, struppigen Fell. Martius erkannte, dass sich der Warg zum Sprung bereit machte. Die Hand, mit der er den Pfeil in der Sehne zog, berührte sein Kinn. Tröstlich. Noch einmal ausatmen, befahl er sich. Nicht mehr atmen. Das Ziel fest im Auge. Die Zeit schien still zu stehen, der Lärm um ihn herum war unwirklich gedämpft. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie die Warge mörderisch um sich schnappten. Die Elben, die keinen Platz mehr zum Spannen der Bögen hatten, fassten die Pfeile wie Dolche und stachen nach den Monstern. Für Moira, dachte Martius. Und als der Warg sich endlich zum gewaltigen Sprung abstieß, ließ er den Pfeil fahren, beobachtete fasziniert den Flug und landete selbst unsanft auf der Erde, als der fliegende Warg ihn umriss. Er stöhnte laut, das Gewicht des gewaltigen Tieres presste die Luft aus seinen Lungen. Den Bogen mit beiden Händen breit gefasst, versuchte er mit aller Kraft, die Schnauze des Wargs, die wild um sich schnappte, von seinem Gesicht fernzuhalten. Dennoch nahm er wahr, wie seine Muskeln anschwollen und zitterten. Ein Schweißtropfen perlte über seine Stirn. Ein sicheres Zeichen, dass er die Kraft verlor, die sonst dafür sorgte, dass Elben niemals schwitzten. Der Warg strampelte, fand mit den Pranken auf Martius’ Bauch Halt und drückte sich ab. Der Waldelb ächzte, als die Klauen in seinen Magen fuhren. Doch ahnte er die nun folgende Bewegung, riss seinen Kopf zur Seite und spürte, wie die Kiefer ins Leere schlugen. Der Warg streckte die vier Beine von sich und kam wie ein nasser Sack zu liegen. Martius horchte erstarrt, doch das Biest gab keinen Laut von sich. Verzweifelt schnappte der Elb nach Luft. Das Vieh war schwer und stank nach Verwesung, aber es bewegte sich nicht mehr. Bleiern hing es auf dem Bogen, den Martius nach wie vor ächzend mit ausgestreckten Armen hielt. Seine Handgelenke brannten vor Schmerz. Langsam drehte er den Kopf und starrte auf die lange Schnauze, aus der die blaue Zunge heraushing. Die Augen des Monsters waren dunkel und gebrochen. Nun war der Goldschmied sicher, dass der Warg tot war. Derweil nahm er die Kampfgeräusche wieder wahr, sie schienen sich verlagert zu haben und nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe zu sein. Wo steckten bloß seine Kampfgefährten? Eben noch waren sie dicht um ihn gewesen. Der Geruch des Sterbens hing in der Luft. Verzweifelt versuchte er, den Kopf zu heben. An dem klobigen Schädel des toten Wargs konnte er nicht vorbeisehen. Von hier unten sah er nur grün, braun und das Schwarzrot der Blutlachen. Seine Arme waren inzwischen lahm. Ein wenig ließ er sie sinken, um den Kadaver mit Schwung zur Seite zu rollen. Doch er bewegte sich nicht. Martius versuchte es ächzend erneut, aber das Monster narrte ihn noch im Tod und hielt ihn gefangen, unter sich begraben. Tränen der Anstrengung und der Wut liefen dem Waldelb über die Wangen. »Du, du Mörder«, brüllte er und versuchte, sich unter dem stinkenden Kadaver freizustrampeln. Doch auch das half nichts, er blieb wie am Boden festgenagelt. Erschöpft ließ er die Arme fallen, sodass der Wargkopf auf ihn niedersank. Angewidert drückte er rasch sein Gesicht zur Seite und presste es in den modrigen Waldboden. Hilflos hörte Martius, wie erneut Warge aus dem Dickicht brachen. Sie scherten sich nicht um den Elb und den toten Artgenossen, sondern sprangen einfach über sie hinweg, dorthin wo Geschrei und Gebell wüteten. Befriedigt hörte Martius heraus, dass die Warge kein leichtes Spiel hatten. Erleichtert konnte er Stimmen erkennen, die den Bogenmeistern anderer Wächtereinheiten gehörten. Martius hielt es für möglich, dass das Belfern der Warge bis zu dem nur wenige hundert Schritt entfernten Dorf gedrungen war. Die Waldelben waren ein umsichtiges Volk, das hoch oben auf den Mammutbäumen wohnte, um die Umgebung immer im Blick zu behalten. Der Ausguck im Wipfel des Mammutmars, dem höchsten und prächtigsten Wohnbaum, war stets durch einen Wächter besetzt. Er schloss die Lider und sah förmlich vor seinem inneren Auge, wie die Elbenwächter das Wargrudel umringten und sie mit langen Speeren in die Enge trieben, damit sie von den Bogenschützen abgeschossen werden konnten. Ein leises Knacken ließ ihn zusammenzucken und die Lider hochreißen. Zwei Wildlederstiefel mit Fransen erschienen in seinem Gesichtsfeld. Sie reichten bis zu den schlanken Knien. Die Besitzerin der Stiefel hockte sich hin und beugte sich grinsend zu ihm herunter. Er sah in ein fremdes Antlitz einer Schönheit, edel wie eine Göttin. Die vollen Lippen, die er noch eben als hämisches Grinsen fehlgedeutet hatte, formten sich zu einem bezaubernden Lächeln, das sein Herz höherschlagen ließ. Dunkelrotes, glänzendes Haar wellte sich leicht über die Schultern und reichte ihr bis zur Hüfte. Als sie ihn ansprach, verstand er sie zunächst nicht, da ihre Stimme ihn bezauberte. Sie sprach, doch es klang schöner als eines der bewegenden Lieder von Moira. Nach einer Weile drangen ihre Worte in sein Bewusstsein.

»Der Warg scheint schwer zu sein, mein Herr.«

Martius konnte nur leicht nicken und kam sich wie ein Narr vor. Sie beugte sich noch etwas tiefer und gab so den Blick auf eine Halskette mit einem roten Schmuckwerk, das zwischen ihren Brustansätzen baumelte, frei. So einen Stein, der meisterhaft in tausend Facetten funkelte, hatte er noch nie gesehen. Keine Meisterhand konnte einem Edelstein einen solchen Schliff verpassen. Sie schien seinen Blick zu bemerken, denn sie griff augenblicklich nach dem Kleinod. Martius hatte den Eindruck, dass das faustgroße Schmuckstück einen betörenden Duft verströmte, den er kannte. Wenn Moira lange durch den Elbengarten gestreift war und beim Üben ihrer Lieder die Blumen mit ihren Händen berührt hatte, hatte ihre Haut genau diesen Duft angenommen.

Das konnte nicht sein. Das bildete er sich ein. Die Sehnsucht nach seiner Tochter war einfach zu groß.

Er schloss die Lider und stöhnte.

»Wartet, mein Herr. Ich befreie Euch von der Last.« Tatsächlich zerrte sie den Warg von ihm herunter, als wäre er ein zartes Reh. Sie reichte ihm die Hände, um ihm aufzuhelfen. Als ihre Finger seine Haut berührten, spürte er es prickeln. Sie ist magisch, dachte er voller Schrecken. Magie galt als verdorben. Doch wie sonst sollte sie das Monster von ihm herunterbewegt haben? Sie setzte es für etwas Gutes ein. War die Magie dann nicht ebenso gut?

Als er stand, bemerkte er, dass die Elbin mindestens ein Kopf kleiner als die Elbenfrauen war, die er kannte. »Wer seid Ihr, meine Holde?«, fragte er.

Sie lächelte und zwang ihn, in ihre riesigen, grauen Augen zu schauen. Er lächelte zurück und empfand sich leicht und unbeschwert wie schon lange nicht mehr. In diesem Augenblick fühlte er sich ihr nahe, das war beglückend. Da waren nur sie und er. Keine Warge, keine tobende Meute und tote Freunde, keine Moira, keine Sehnsucht oder Trauer. Er spürte, wie er sie liebte.

Dann sang sie ihm ein Lied und zeigte ihm Visionen von einem gemeinsamen Kind, das gar nicht weit von hier in einem Wolfsbau auf Martius wartete. Da gewahrte er, wie in seinem Herzen Sehnsucht nach seinem Kind einzog, obwohl die Überbleibsel seines Verstandes ihm zuraunten: Du hast kein Kind gezeugt. Nicht mit ihr.

»Versprich mir, dass sie es guthaben wird«, flehte sie.

»Wir könnten sie gemeinsam großziehen, Geliebte.« Denn das war sie für ihn. In diesem Moment.

»Nein, leider ist das nicht möglich.«

»Warum nicht?«

Auf einmal spürte er, wie ihn schwarze Schatten umgaben. »Martius, wo bist du?«, hörte er Emdoras rufen.

»Versprich es mir!«, dröhnte die Fremde, die die Worte mit einem Donnern in ihrer Stimme ausstieß. Nun wirkte sie mehr wie eine Rachegöttin, schön und grausam.

Martius duckte sich und stotterte: »Ich verspreche es dir!«

Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter, erschrocken drehte er sich um und sah in das Gesicht seines Bogenmeisters. »Martius, alles gut. Ich bin es!«

Der Waldelb schüttelte sich. »Hast du mich erschreckt!«

»Das tut mir leid. Bist du verletzt?«

»Glaube nicht. Wie sieht es aus?«

»Die Warge sind tot oder geflohen.«

»Tapfere Sylvani!«

»Auch, aber wir hatten Hilfe. Ohne eine fremde Elbin wären wir verloren gewesen. Sie hatte rotes Haar. Ein solches Rot habe ich noch nie auf einem Elbenkopf gesehen. Es hatte die Farbe dunklen Blutes.« Er schüttelte den Kopf, wohl, weil ihn dieses Detail so verwunderte, dann schilderte er weiter: »Sie ließ einen Feuerregen auf das Rudel niederprasseln, die Warge gingen in Flammen auf, jaulten und heulten. Hast du es nicht gehört?«

»Nein, meinst du diese Elbin?« Doch als Martius sich zu seiner Geliebten umwandte, war sie verschwunden. Der Waldelb starrte verständnislos ins Nichts.

»Martius, da ist niemand.«

»Sie war aber hier. Der Warg, siehst du den Warg dort, der lag auf mir und sie hat ihn von mir genommen, als wäre es nichts. Diese zarte Schönheit.«

»Dann war es bestimmt die bluthaarige Elbin.«

»Ja, sie trug solches Haar«, bestätigte Martius versonnen.

»Sie ist offenbar eine Zauberin«, stellte Emdoras fest.

»Hexe, meinst du wohl«, stieß der Goldschmied aus, dem bewusst wurde, dass sie ihm etwas vorgegaukelt hatte. Bei aller Verwunderung überkam ihn Scham. Er hatte in Gedanken gesündigt. Den Waldelben war nur reine Liebe gestattet, die ausschließlich mit der einen Erwählten, der sie das Ewige Versprechen gegeben hatten, körperlich ausgelebt werden durfte. Aber nur so lange, bis der Leib mit einem Kind gesegnet war. Dann war es ihnen nicht mehr erlaubt, sich auf diese Weise zu nähern. Jedes erwählte Paar durfte nur so viele Kinder bekommen, wie Geister der Ahnen auf ein neues Zuhause warteten. So war es Martius selbst nach dem Tod Moiras nicht mehr gestattet, sich mit seiner Gefährtin Auralia zu vereinen. Doch bis zu diesem Augenblick hatte er es nicht vermisst. Die Zeugung von Moira mit der spröden Elbin war verkrampft und mühselig gewesen.

Emdoras sprach mitten in seinen inneren Disput. »Wenn, dann eine gute Hexe. Sie hat uns gerettet. Die Warge waren hoffnungslos in der Überzahl. Es müssen weit über hundert gewesen sein, die den Pfeilen und Speeren unserer tapferen Leute widerstanden. Der Angriff hat viele Opfer gekostet.«

»Wie viele?«

»Von meiner Gruppe haben nur wir überlebt.«

Martius stieß einen Seufzer aus. »Arker und Rexto habe ich fallen sehen.«

Emdoras fasste den Goldschmied am Arm und sah ihn an. »Diese mörderische Brut. Dreißig weitere tapfere Elben haben sie gerissen. So viele Leben!«

»Was ist mit Auralia?«

»Sie ist in Sicherheit!«

»Töteten sie Elbinnen oder Kinder aus dem Dorf?«

»Nein, DEM EINEN sei Dank. Nein. Diesmal nicht!«

Martius sah durch den Bogenmeister hindurch. Zwei Jahre war es nun her, dass ein junges Wargrudel ihr Dorf überfallen hatte. Bis dahin hatten sich die Waldelben sicher gefühlt. Sie lebten in prächtigen Leichthäusern, gebaut aus magischem Eischbeholz auf den riesigen Blättern der Mammutbäume. Dem Himmel so nah fühlten sie sich unangreifbar. Die Grundblätter waren zum Teil durch Brücken und Wendelwege miteinander verbunden. Nur die Parkanlage mit dem Brunnen war auf dem Erdboden angesiedelt. Und dort hatte sich seine Tochter Moira mit einigen anderen Elbenkindern zu Musik und Tanz getroffen. Die Elbenmädchen hatten sich an den Händen gehalten und den Kaskadenbrunnen umringt, während Elbenknaben Harfe und Flöte dazu spielten und Moira sang. Sie hatte die schönste Stimme gehabt, die man sich vorstellen konnte. Die Lider geschlossen, fühlte sie der Melodie nach und schuf immer wieder neu ein Kunstwerk. Sie hatte ein großes Talent, das das ihrer Mutter, der berühmten Sängerin Auralia, übertraf. Als die Warge durchbrachen, veranstalteten sie einen Höllenlärm – so konnten die meisten fliehen. Doch Moira war gefangen gewesen in ihrem Lied und so zum ersten Opfer geworden. Auralia musste mit ansehen, wie die Bestie ihr hilfloses Kind ansprang und ihr mit einem Biss die goldene Kehle herausriss. Sie war sofort tot gewesen. Noch einige Opfer waren zu beklagen, denn drei Wargen gelang es, die Leitern und Wendelwege nach oben zu erklimmen. Die anderen starben im Pfeilhagel der Elben.

Plötzlich spürte Martius den festen Griff von Emdoras, der ihn hielt. Jetzt erst merkte er, dass die schmerzliche Erinnerung ihn schwanken ließ.

»Komm und hilf, die Verletzten zu versorgen«, ordnete der Bogenmeister an.

Geistesabwesend nickte Martius. Dann schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. »Ist die blutrothaarige Elbin dabei?«

Emdoras schüttelte den Kopf: »Nein, sie ist weder unter den Toten noch unter den Verletzten. Sie ist spurlos verschwunden.«

Als Martius nichts dazu sagte, setzte der Bogenmeister hinzu: »Gern würde auch ich mich bei ihr bedanken. Sie hat viele Leben gerettet.«

»Warum sie wohl verschwunden ist? Wir hätten sie doch gern gefeiert«, sinnierte der Goldschmied, dessen Gefühle verwirrend waren. Jedes Mal, wenn er an die fremde Elbin dachte, sehnte er sich nach ihr. Auch wenn es nicht sein konnte und durfte, musste er sich eingestehen, dass er in heißer Liebe zu ihr entflammt war.

»Besonders Auralia muss der Fremden dankbar sein, dass sie dich nicht unter dem Warg sterben lassen hat.«

Bei dem Namen seiner Gefährtin zuckte Martius schuldbewusst zusammen. Auralia war eine Schönheit, berühmt und edel. Er konnte sich glücklich schätzen, ausgewählt worden zu sein, um mit ihr ein Kind großzuziehen. Sie war eine liebevolle Mutter gewesen und hatte es verdient, dass er ihr treu zur Seite stand, um mit ihr gemeinsam über den Verlust ihrer Tochter hinwegzukommen. Warum verglich er sie mit einer dahergelaufenen Fremden, die in ihm Tagträume hervorlockte? Sie musste doch eine Hexe sein, die ihn verführt und ihm falsche Gefühle vorgegaukelt hatte. Offenbar eine Meisterin, wenn er nicht mehr wusste, was er fühlte. Denn bei aller Täuschung war ihm bewusst, dass er sie noch immer liebte und sich qualvoll nach ihr sehnte. Plötzlich erinnerte er sich an sein Versprechen und sagte: »Ich muss zum alten Wolfsbau.«

»Was willst du da?«

»Die fremde Elbin hat …, ähm, ich fürchte, sie hat uns etwas hinterlassen. Bitte, lass uns nachsehen!«

 

Leseprobe: 1. Kapitel aus Feuerzorn

1. Wargin

Apeiron (Sekundäre Dimension), Eisenland

Im Jahr 520 des Götterlosen Zeitalters

Königreich Dion, Sylvana, oder auch das entrückte Gebiet der Waldelben ins Legendenreich, mitten im Silberwald

Die blutrote Wargin taumelte. Ihre Pfoten bluteten. Das struppige Fell klebte an dem dürren Körper. Das Hecheln verschaffte ihr keine Abkühlung. Geschwächt nahm sie die Baumstämme und Büsche, durch die sie stolperte, nur verschwommen wahr. Wenn sie doch einen Augenblick verschnaufen könnte. In der Ferne hörte sie das aufgeregte Belfern der wilden Warge, die sie jagten. Sie und den Welpen. Es gab für sie kein Verharren. Sie war erschöpft, musste aber dennoch weiter. Fort von dem alten Wolfsbau. Die Horde weglocken von dem kleinen Schatz, den sie in der Höhle verborgen hatte. Dafür tat sie alles. Jeder Muskel in dem klobigen Körper biss, die Knochen schrien und sie fürchtete, sie könnten bersten. »Reiß dich zusammen!«, feuerte sie sich an. Es musste ihr gelingen, das Kind zu retten. Ihre Gedanken kreisten um ihr Mädchen, das sie zurückgelassen hatte. Wenige Wochen alt, nackt, in Tücher gewickelt, lag das Kind mutterseelenallein in der Höhle. Die Wargin hoffte, dass sie in der Hetze gut gewählt hatte. Dieser ehemalige Wolfsbau stank so sehr nach altem Wolf, dass der Geruch den des Elbenkindes übertünchte. Inbrünstig, wenn auch nur aus Gewohnheit, betete sie zu Arthemis, dem Gott der Erde und der Jagd, dass die Warge sie nicht zu wittern vermochten. Mit Wehmut erinnerte sie sich an das letzte Lächeln, das die zarten Lippen zustande gebracht hatten. Es war nur für sie bestimmt gewesen, doch in dieser Gestalt besaß sie keinen Mund, um das Mädchen zu küssen oder es mit einem Schlaflied zu besänftigen. Und selbst für diesen letzten Augenblick wagte sie es nicht, sich zu verwandeln. Es brauchte einfach zu viel Zeit und Kraft. So blieben nur die Zauber, die sie gewoben hatte, um Amruila zu beruhigen und in den Schlaf zu wiegen.

Sie zwang ihre müden Läufe, sich zu heben und zu senken. Es verlangte ihr viel Konzentration ab. Nur mit Mühe fing sie sich, als sie über die Wurzeln strauchelte. Die Warge kamen näher. Sie hoffte, der Zauber würde stark und verlockend genug sein, dass die Waldelben das Kind fänden, bevor es verdurstete oder erfror. »Amruila«, flüsterte sie mit ihrem Herzen. »Pass gut auf dich und dein Feuer auf!« Sie spürte auf der Haut, wie der Abstand sich gefährlich verringerte. Mit letzter Kraft setzte sie sich in einen wackeligen Trab, um die knappe Distanz zu den nahenden magischen Raubtieren wenigstens zu halten. Wenn sie doch kurz rasten könnte, um ins Zaubergewebe zu greifen und Kraft abzuzweigen. Sie fühlte sich leer und ausgezehrt. Der Warg, in dem sie wohnte, forderte seinen Tribut und ebenso die Tausende Meilen, die sie zurückgelegt hatte. An der geheimen Grenze zu Sylvana hatte ihr dieses Rudel Warge aufgelauert, das sich nicht abschütteln ließ. Es war ihr gelungen, einen gehörigen Vorsprung herauszuarbeiten, als sie ihr Ziel Sylva, das Dorf im Gebiet der Waldelben, das man den Legenden zuschrieb, erreicht hatte. Die Winde flüsterten, dass dort ein gesegneter Goldschmied lebte. Ihn hatte sie erwählt. Er sollte es sein, der Amruila großziehen würde und bei dem sie in die Lehre gehen konnte. Wenigstens für eine gute Basis. Den Köder für den Goldschmied hatte sie ausgelegt. Das müsste ihn binden. Doch es hatte ihr viel an Kraft abverlangt, neben dem Kristall auch noch die Zauber in diese dunkle Höhle zu weben. Sie dachte an die grauen Augen, die sie in der Finsternis auf sich gespürt hatte, als sie das Kind in Decken gewickelt in eine Nische legte. Sie umgab den Säugling mit der mütterlichen Aura. Der Kristall sollte ihm darüber hinaus Licht, Wärme und Zuversicht schenken. Es tat weh, das eigene Fleisch und Blut zurückzulassen, doch es gab keine andere Möglichkeit. Die Wargin fühlte sich uralt und wusste, dass sie bald sterben würde. Die Magie ihres Volkes brannte nur noch mit einer dünnen Flamme in ihr. Das Zauberschmieden und die Wargerei verzehrten sie. Doch als sie die Höhle verließ, holte die Horde auf. Erneut hörte sie das Belfern der Verfolger. Ihr Kopf hämmerte, dass es sie schmerzte und sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Schwache Schatten von Magie griffen nach ihr. Sie musste fort und versuchte einen leichten Galopp. Jede Bewegung strengte sie an. Die Warge kläfften im Jagdrausch. Sie wussten, dass sie und der vermeintliche Welpe, den sie zwischen den Zähnen bis hierher geschleppt hatte, etwas anderes als gewöhnliche Warge waren. Sie ließen sich nicht täuschen und rochen das Feurige, das an der blutroten Wargin klebte und das die Raubtiere hassten. Feuer war das Einzige, was die ponygroßen Tiere mit grausamer Blutgier fürchteten. Sie zwang sich, das Tempo zu steigern. Nicht, dass sie dem Tod anheimfiel, ängstigte sie, sondern dass diese Monster den letzten Nachkommen des Halbgottes Amruil fressen könnten und mit ihr die letzte Erbin über das Vermögen zum Zauberschmieden vertilgten. Sie hoffte, dass es Amruila ohne Anleitung und Kenntnisse der Feuerelben lernen würde. Das alte Wissen der Seelen, die in der kleinen Elbin lebten, musste von ihr erkannt und mit Magie erfüllt werden. Die Wargin trachtete danach, dass das Kind überlebte und selbst Kinder bekam, damit die Erben Amruils nicht ausstarben. Von Weitem hörte sie Stimmen. Elbische Stimmen. Womöglich waren es die Wächter, die bemerkt hatten, dass ein Rudel Warge in ihr heiliges Sylvana eingedrungen war. Augenblicklich änderte sie den Kurs und hielt auf die Wargjäger zu. Hoffentlich war unter diesen Elben der Goldschmied. Sie würde ihn an dem Geruch, der ihm anhaftete, erkennen. Im vollen Galopp rannte sie, beflügelt durch die Nähe ihres Ziels. Sie erlaubte sich, zu hoffen. Entweder verfolgten die Warge sie und kämen so vor die schussbereiten Bögen oder sie erkannten die Falle und nahmen einen anderen Weg. Hauptsache möglichst weit weg von der Höhle! »Großer Arthemis, beschütze mein Kind«, betete sie zu dem Gott der Erde, der Eisenland wie alle anderen Götter verlassen hatte.